2.6.2015 – Die baltischen Staaten sind im wirtschaftlichen und politischen Aufbruch, trotz aller Probleme mit dem „großen Bruder“ Russland. Eine Delegation heimischer Bürgermeister machte sich vor Ort ein Bild. Und kam zu überraschenden Erkenntnissen.
Zu Lettland hat kaum jemand Erwartungshaltungen oder Vorwissen. Man weiß ungefähr, wo das Land liegt, man weiß, dass es zu den baltischen Staaten gehört, man stellt sich den Ostblock-Charme, der dazu gehört, einfach vor. Doch dann ist meistens schon Schluss mit der Vorstellungskraft.
Keine Spur von Ostblock-Charme
Wenn man in der lettischen Hauptstand Riga landet, erwarten einen freilich die ersten Überraschungen. Moderner Flughafen, vollständig westlicher Standard, keine Spur von Ostblock-Charme. Die Stadt selbst setzt die positiven Überraschungen fort. Die Infrastruktur ist in exzellentem Zustand, die liebevoll sanierte Altstadt erinnert mit ihren Jugendstil-Fassaden und Altbau-Zinshäusern ein wenig an Wien. Ein wichtiger Unterschied: Riga ist nie bombardiert oder zerstört worden, es gibt in der Innenstadt daher kaum lückenfüllende Gemeindebauten.
Für die rund 40köpfige Delegation österreichischer Bürgermeister, die Lettland im Rahmen einer Bildungsreise besuchten, gehen die Überraschungen weiter. Der Besuch einer Grundschule in der Gemeinde Engure, ein Stück außerhalb von Riga, steht auf dem Programm. Die Direktorin der Schule und der Bürgermeister von Engure Gundars Vaza stehen den heimischen Gemeindevertretern Rede und Antwort. Der Schuleintritt der Kinder erfolgt mit sieben Jahren, davor gibt es eine zweijährige Vorschule. Die sieben bis 14jährigen Kinder besuchen gemeinsam eine Gesamtschule, danach endet die Schulpflicht, der Besuch höherer Schulen steht allen frei. „Der Kindergarten ist bei uns gratis“, erklärt Bürgermeister Vaza. „Nur das Essen muss bezahlt werden. Wir als Gemeinde sind sowohl Schul- als auch Kindergartenerhalter, das ist ähnlich wie in Österreich.“ Die Lehrer werden vom Zentralstaat bezahlt, die Schulleiter haben aber das volle Durchgriffsrecht. „Ich kann einstellen und entlassen, wen ich will“, berichtet die Direktorin und sorgt damit erstmals für hoffnungsvolles Raunen unter den Bürgermeistern. „Das würden wir uns für unsere Schulen auch wünschen“, flüstert ein Tiroler Bürgermeister dem anderen zu. „In dieser Hinsicht ist Lettland schon einen großen Schritt weiter als wir“, sagt Gemeindebund-Chef Helmut Mödlhammer, der die österreichische Delegation gemeinsam mit seinem Vize Alfred Riedl anführt. „Das wird noch ein langer Verhandlungsweg mit der Lehrergewerkschaft.“
Schulverbände, über die sich mehrere Gemeinden eine Schule teilen, sind auch in Lettland üblich. „Das war bei uns auch so, wir haben allerdings 2009 mit einigen anderen Gemeinden fusioniert, nun sind wir eine Gemeinde mit rund 8.000 Einwohnern und haben natürlich unsere eigene Schule“, so Vaza. Die Gemeinderäte kommen zu gleichen Teilen aus den ehemals eigenständigen Gemeinden und bilden zusammen die neue Gemeindevertretung. Auch das Budget fließt einigermaßen gleichteilig in die nunmehrigen Ortsteile. Die Größe der lettischen Gemeindevertretungen ist deutlich kleiner als in Österreich. Bis 5.000 Einwohner gibt es nur neun Gemeinderät/innen. Gewählt wird alle vier Jahre, die Absicherung der Bürgermeister/innen ist vorbildlich. Nach mindestens zwei vollen Amtsperioden hat man Anspruch auf eine Bürgermeisterpension im Alter. „Davon sind wir noch weit entfernt“, so Mödlhammer. Auch von der Frauenquote, wie sie in lettischen Gemeinden üblich ist, kann man in Österreich nur träumen. „Rund ein Drittel unserer Ortschefs sind weiblich“, sagt die lettische Gemeindebund-Generalsekretärin.“ In Österreich liegt der Anteil bei mageren 6,7 Prozent.
Fusionwelle erfasste auch lettische Kommunen 2009
Die Fusionswelle hat fast alle Gemeinden des baltischen Staates erwischt. 527 Kommunen waren es vor 2009, jetzt sind es nur noch 119. Die Entfernungen zwischen den Ortsteilen der neuen Gemeinden sind nun zum Teil beträchtlich, weil die Gemeindegebiete riesig sind. Das Land ist nur wenig kleiner als Österreich, hat aber nur ein Viertel der Einwohner (zwei Millionen), fast die Hälfte davon lebt in der Hauptstadt. Land- und Forstwirtschaft sind außerhalb von Riga die prägenden Wirtschaftsfaktoren.
Das Aufgabengebiet der lettischen Gemeinden ist mit jenem der österreichischen Kommunen vergleichbar. Kinderbetreuung, Schule, Soziales, Abfallwirtschaft, Wasser- und Abwasser, Straßenbau, Nahverkehr, Dienstleistungen und Gesundheitswesen werden von den Gemeinden organisiert und weitgehend finanziert. Die Abhängigkeit vom Zentralstaat ist geringer, nur 26 Prozent der kommunalen Einnahmen kommen vom Bund. 80 Prozent der Einkommens- und 100 Prozent der Immobiliensteuer fließen direkt in die Gemeinden. „Diese Aufteilung wird jedes Jahr neu zwischen dem lettischen Gemeindebund und der Zentralregierung verhandelt“, erzählt die Generalsekretärin der lettischen Gemeindevertreter, Mudite Priede. Der lettische Gemeindebund vertritt mit einer Ausnahme alle lettischen Kommunen.
Ein Kuriosum lettischer Infrastrukturpolitik bekommen die österreichischen Bürgermeister dann auch noch zu sehen: Es handelt sich um einen Geisterflughafen, der nagelneu errichtet wurde, der aber keine Betriebsgenehmigung erhalten hat. Der ehemalige russische Militärflughafen wurde von einem Privatmann erworben, vollständig neu gebaut und steht nun völlig unbenutzt in der Landschaft. „Das ist mystisch“, findet Mödlhammer, als er durch die leeren VIP-Bereiche, Abflughalle und Meetingräume geführt wird. Hier ist alles fix und fertig, bis ins kleinste Detail. Sogar Tische, Sessel, Gangways und Feuerwehrfahrzeuge stehen hier unbenutzt herum. Es ist wie in einem Film von Stephen King: Alles ist da, nur die Menschen fehlen.“ 40 Millionen Euro hat der Flughafen gekostet, nun hofft man, die Betriebsgenehmigung doch noch zu bekommen.
„Bundesländer gibt es bei uns keine“
Am Ende kommt noch ein Vertreter der Zentralregierung zu Wort. Er ist dafür zuständig, die finanzielle Gebarung der Gemeinden zu kontrollieren. „Bei nur 119 Gemeinden geht das natürlich leichter“, sagt er. „Wir sehen uns außerdem eher als begleitende Partner der Kommunen, nicht als reine Prüfer.“ Die Autonomie der Gemeinden Lettlands ist auf den ersten Blick fast größer als in Österreich. „Dienstleistungen der Kommune können von uns selbst erbracht werden, wir können sie aber auch auslagern“, erklärt Bürgermeister Vaza, der sich für die heimische Delegation fast den ganzen Tag Zeit nahm. „Wir müssen nur sicherstellen, dass die Aufgabe erledigt wird. Jede Gemeinde kann individuell entscheiden, wie sie das macht.“
Nach intensivem Gedankenaustausch zwischen den Letten und der österreichischen Delegation wird es am Ende noch lustig, als ein Bürgermeister wissen will, welche Aufgabe die Bundesländer in Lettland hätten. „Bundesländer?“, zieht Ortschef Vazas fragend die Augenbrauen hoch, „Bundesländer gibt es bei uns keine“.