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Gastartikel: Bürgerbeteiligung statt Wutbewegung

Braucht es mehr Verantwortung oder Verbote? Was schuldet die eine Generation der anderen? Und welche Lehren ziehen wir aus dieser Krise für die kommenden? Nicht nur in Österreich, sondern weltweit kämpft die Politik mit der neuartigen Situation. Ein Blick ins Nachbarland zeigt: Einen Bundestagswahlkampf in Pandemiezeiten hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Auf bewährte Instrumente des Dialogs und der Kommunikation müssen aber nicht nur Parteien, sondern auch öffentliche Institutionen und Kommunen verzichten.

Doch wie lässt sich eine Diskussion beispielsweise um die Lockerung oder Beendigung des Lockdowns führen? Als die Bundeskanzlerin im ersten Lockdown im Frühsommer 2020 vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ warnte, ging die Debatte erst richtig los. Viele Bürger haben bis heute den Eindruck, zum permanenten Lockdown gäbe es keine Alternative. Über Alternativen wird in einer Demokratie aber täglich gestritten, sie ist per Definition eine ständige „Diskussionsorgie“. In einer Demokratie muss die Debatte von möglichst vielen Beteiligten geführt werden – unabhängig von Tabus und Tempo. Dass Experten allein dazu nicht in der Lage sind, haben die vielen Stellungnahmen von regierungsberufenen Gremien gezeigt.

Bürger wollen Orientierung

Um die nötige Legitimation der Politik in den nächsten Monaten zu sichern, braucht es mehr Expertise durch die Einbindung der Bürger. Aktuellen Umfragen zufolge verlieren die Bürger das Vertrauen in das Krisenmanagement der Regierung. Erstmals seit Monaten sinken die Beliebtheitswerte aller Spitzenpolitiker.  Fragen, wann und wo Lockerungen möglich sein können, wer in welcher Reihenfolge geimpft werden soll und welche Rechte Geimpfte haben sollen, bewegen alle Ebenen und Gruppen. Diese Fragen allein an wissenschaftliche Gremien und (Ethik)Räte zu delegieren, führt nicht zu mehr Akzeptanz und Orientierung. Im Gegenteil: Unmut und Verdruss der Bürger wachsen.

Ziel der Debatte muss eine von möglichst vielen Bürgern akzeptierte Balance aus Gesundheitsschutz und Freiheit sein. Die Frage „Gesundheit oder Freiheit“ beziehungsweise „Geld oder Leben“ suggeriert dabei eine Scheinalternative. Der Wirtschaftsethiker Karl Homann hat in einem klugen Essay darauf hingewiesen: „Ein Denken in dualistischen Bahnen verhindert eine sinnvolle Lösung der Probleme.“ Ein monatelanger Lockdown aufgrund von niedrigen Inzidenzwerten oder einer „Null Covid“-Strategie würde zu erheblichen sozialen und ökonomischen Folgen führen, ein Laufenlassen der Pandemie dagegen zu Hunderttausenden Toten, wie die Beispiele USA und England zeigen. In einer liberalen Demokratie geht es immer um beides: Eine gesundheitliche Krise kann eine freiheitliche Gesellschaft nur überstehen, wenn sie ihre gesellschaftlichen Grundwerte dabei nicht über Bord wirft. Doch wie lässt sich das „Denken in dualistischen Bahnen“ durchbrechen?

Akzeptanz stärken mit Beteiligung

Politik in Ausnahmesituationen wie einer Pandemie sollte beides tun: auf die Wissenschaft hören und den Souverän in die Abwägung mit einbeziehen. Von der großen liberalen Politikerin Hildegard Hamm-Brücher stammt der Satz „Alle Macht geht vom Volke aus, kehrt aber nie wieder dorthin zurück.“ Politische Führung bedeutet auch in einer Zeit wie Corona nicht, von oben im Namen der Bürger Entscheidungen zu treffen, sondern gemeinsam mit ihnen einen Prozess der Öffnung in Gang zu setzen, dessen Entscheidungen am Ende eine breite Mehrheit finden. Nur ein solches Vorgehen schafft nachhaltig Vertrauen und Akzeptanz. Die Debatte, welche Freiheiten vor- oder nachrangig sein sollen in dieser Pandemie, betrifft alle Mitglieder eines Gemeinwesens und nicht nur Lobbygruppen und Experten. Wo Politik und Behörden nicht die gebotene Kreativität entwickeln können (oder wollen), sollten es die Bürger tun. Es geht um Abwägen und Ausgleich zwischen Menschlichkeit und Marktwirtschaft, Freiheit und Gesundheit, Solidarität und Sicherheit. Allein Demokratien sind in der Lage, auf Grundlage solcher Abwägungsprozesse Entscheidungen zu formulieren, die von einer breiten Mehrheit akzeptiert werden.

Trotz Corona Bürgerbeteiligung fördern

Kluge Papiere und Stellungnahmen von Expertengremien sind kein Ersatz, sondern Voraussetzung für einen breiten Konsens zur Frage eines sicheren Exits. Auf den Rat der Experten muss eine angemessene Beratschlagung des Bundestages und (!) der Bürger folgen. So wie es im Bundestag Debatten über die Corona-Politik der Bundesregierung geben muss, müssen auch die Bürger beteiligt werden. Der beste Ort dafür sind die Länder und Kommunen. Erfolgreiche Beispiele gibt es genug. Vor Corona waren Versammlungen mit ausgelosten Bürgern europaweit geübte Praxis moderner Regierungspolitik. So hat Irland mit Unterstützung von Bürgerversammlungen vor Jahren die beiden Referenden zur „Ehe für Alle“ und zum Abtreibungsrecht vorbereitet. Debattiert wurde in wechselnden Tischrunden mit wechselnden Teilnehmern.

Wenn ein Redner die Debatte zu stark dominierte, erteilte der Moderator einem anderen das Wort. Der Bürgerrat hat eine jahrzehntelange Pattsituation beendet. Zwei Drittel der Iren stimmten am Ende für eine Lockerung des Abtreibungsverbots. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron startete als Reaktion auf die Proteste der„Gelbwesten“ im Jahr 2019 eine Reihe von Bürgerkonsultationen („Grand Debate“), die einen neuen Konsens in der Klimapolitik vorbereiten sollten. Nur wenige Wochen nach Ausbruch der Pandemie hat der Rat in einem Online-Verfahren 50 Vorschläge zur sozialen und ökologischen Überwindung der Coronakrise vorgelegt, die in ein Klimagesetz einfließen sollen. Folgen soll nun ein Bürgerrat, der den französischen Corona-Impfprozess begleiten soll.

Bürger in einem Rat versammeln

Und Deutschland? Auf Bundesebene startete vor wenigen Wochen ein Bürgerrat zur Außenpolitik. 160 per Los ausgewählte Bürger diskutieren seitdem „Deutschlands Rolle in der Welt“. Moderiert werden die Runden von Hauptamtlichen, Experten werden zugeschaltet. Mit der Themenwahl hat der Bundestag jedoch die Chance verpasst, der aktuellen Vertrauenskrise gegenüber der Coronapolitik etwas entgegen zu setzen. Eine breite und öffentliche Debatte über Vor- und Nachteile von nationalen und regionalen Lockerungen und die Impfung der Bevölkerung findet dafür auf Landesebene statt. In Baden-Württemberg haben bisherige Corona-Bürgerdialoge zu interessanten Ergebnissen geführt. Die Bürger fordern in vielen Bereichen, auch in der Gesundheitspolitik, mehr und nicht weniger Europa. Aus anfänglichen Impfskeptikern werden Impfbefürworter. Das Bundesland hat parallel auch grenzüberschreitende Bürgerforen durchgeführt, um die spezifischen Bedürfnisse der Menschen in den Grenzregionen zu berücksichtigen. Der neue Konsens: eine Schließung der Grenzen wie beim ersten Lockdown vor einem Jahr soll es nicht mehr geben.

Angepasst hat das Bundesland auch den Schlüssel der Zusammensetzung der Foren. Die Mitglieder werden künftig aus allen Landesteilen, aus kleinen Gemeinden und großen Städten sowie aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten, ausgelost. Über welche Themen geredet wird, entscheidet das Bürgerforum selbst. Auch Gespräche mit den Gegnern der Maßnahmen sollen stattfinden. Aus „Verschwörungstheoretikern“ können im besten Fall „Demokratiepraktiker“ werden. Für Pierre Rosanvallon sind Verschwörungstheorien Ausdruck einer „Suche nach der Wahrheit“, ihre Ursache sieht der französische Ideenhistoriker in den Mängeln der „unvollendeten Demokratie“. Warum nicht beides verbinden: die Suche nach der Wahrheit und die Vollendung der Demokratie?

Daniel Dettling

Zum Autor: Daniel Dettling ist Verwaltungs- und Politikwissenschaftler sowie Zukunftsforscher und leitet das Institut für Zukunftspolitik mit Sitz in Berlin.
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