Am Freitag, den 8. Jänner 2021 kam es um 14:05 Uhr zu einem gravierenden Vorfall im europäischen Stromversorgungssystem, der im größten zusammenhängenden Stromnetz der Welt zu einer weitreichenden Netzauftrennung führte. Diese konnte zum Glück durch die hervorragende Arbeit der europäischen Übertragungsnetzbetreiber nach rund einer Stunde wieder behoben werden. Wir sollten uns dennoch nicht in falscher Sicherheit wiegen. Dafür gibt es noch viel zu viele offene Fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte.
Großstörung binnen Sekunden
Die genauen Zusammenhänge werden nun untersucht. Soweit bisher bekannt ist, kam es in Rumänien zu einer Verkettung von mehreren Ereignissen, die zum Eigenschutz des Systems zu dieser gravierenden Netzauftrennung führten. Im nordwesteuropäischen Netzteil kam es in Folge zu einer Leistungsunterdeckung, wodurch die Frequenz sehr rasch bis auf 49,746 Hertz sank. Dieser Frequenzeinbruch führte bei verschiedenen Infrastrukturbetreibern, wie dem Wiener Flughafen oder auch in Krankenhäusern zu Folgestörungen, welche die Notstromversorgung auslösten.
Im südosteuropäischen Netzteil stieg die Frequenz durch den Leistungsüberschuss auf bis zu 50,6 Hertz. In beiden Netzteilen zeigen die extremen Abweichungen von der Sollfrequenz ein deutlich gestörtes Leistungsgleichgewicht. Das kann in einem System, wo permanent die Balance zwischen Verbrauch und Erzeugung sichergestellt werden muss, zu weitreichenden Kaskadeneffekten führen. Das konnte zum Glück noch rechtzeitig durch automatische Abschaltungen von einer Reihe von Industriebetrieben in Frankreich und Italien verhindert werden.
Erste große Störung seit 15 Jahren zeigt Verwundbarkeit des Systems
Damit kam es erstmals seit 2006 zu einer solch gravierenden Netzauftrennung im europäischen Verbundsystem – es ist insgesamt die zweite. Am 4. November 2006 passierte die bisher größte Großstörung. Damals sank die Frequenz im westeuropäischen Segment sogar auf 49 Hertz. Nur die sofortige Abschaltung von 10 Millionen Stromkunden konnte ein Blackout verhindern. Davon waren wir diesmal zum Glück noch deutlich genug entfernt. Jedoch weiß niemand, wie rasch bei einer solchen Störung eine weitere Eskalation („Kaskadeneffekte“) eintreten kann. Natürlich gibt es viele Sicherheitsmechanismen, die das verhindern sollen. Jedoch können diese in einem solchen Großsystem niemals real getestet werden, womit gewisse Unsicherheiten bestehen bleiben. Zum anderen kann das Verhalten eines instabilen gewordenen, komplexen Systems nicht vorhergesehen werden.
Ursache noch unbekannt
Die tatsächlichen Ursachen werden nun von den europäischen Übertragungsnetzbetreibern (ENTSO-E) untersucht. Die bisherige Meldungs- und Informationslage lässt noch keinen plausiblen Schluss zu. Hier sind wohl Gesetze der Komplexität schlagend geworden: keine einfachen Ursache-Wirkungsbeziehungen, sondern kleine Ursache – große Wirkung.
Unser System ist fragiler als gedacht
Dieses Ereignis sollte jedoch als weiterer Warnhinweis („schwaches Signal“) im Sinne des Erfolgskonzeptes von High Reliability Organisations (HRO; „Organisation mit hoher Zuverlässigkeit“) verstanden werden. Die Sicherheitsmechanismen haben gegriffen. Das Ereignis hat aber auch gezeigt, dass selbst das bisher so stabile europäische Verbundsystem nicht unverwundbar ist und dass die Fragilität weiter im Zunehmen ist, auch wenn die Übertragungsnetzbetreiber alles unternehmen werden, um auch aus diesem Vorfall für die Zukunft zu lernen.
Trotz allem sei hier auch an die bisherige Warnung der europäischen Übertragungsnetzbetreiber anlässlich des Blackouts in der Türkei im März 2015 erinnert:
A large electric power system is the most complex existing man-made machine. Although the common expectation of the public in the economically advanced countries is that the electric supply should never be interrupted, there is, unfortunately, no collapse-free power system.
Kurz gesagt, auch das noch so hochentwickelte Stromversorgungssystem Europas ist vor einem Kollaps grundsätzlich nicht gefeit.
In diesem Zusammenhang kann auch nur erneut die Warnung des Österreichischen Bundesheeres vom Jänner 2020 wiederholt werden: Es ist binnen der nächsten fünf Jahre mit einem europaweiten Blackout zu rechnen!
Vorsorge zahlt sich aus
Gerade die zur Zeit sehr angespannte Stromproduktionssituation in Frankreich bis Ende Februar 2021 und die angekündigte Kältewelle für Mitte bis Ende Jänner 2021 werden das europäische Verbundsystem weiter belasten. Auch eine eskalierende Pandemie, wie sie sich derzeit abzeichnet, könnte zu weitreichenden Versorgungsunterbrechungen führen. Daher ist eine generelle Vorsorge weiterhin sinnvoll und geboten. Auch, wenn derzeit bereits viele Menschen und Organisationen mit der Bewältigung der Corona-Krise sehr belastet sind – die Realität nimmt darauf keine Rücksicht.
Leitfäden zur Selbsthilfe für Private als auch Gemeinden kann man auf der Homepage saurugg.net finden.
Zum Autor: Herbert Saurugg ist Experte für die Vorbereitung auf den Ausfall lebenswichtiger Infrastrukturen und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge.