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Wohin Bürgerengagement führt

2.2.2016 – Warum fährt man nach Bad Vöslau? Vielleicht will man wissen möchte, wo das gute Wasser herkommt. Vielleicht will man auch im aus 660 Metern Tiefe gewonnenen Thermalwasser schwimmen. Oder man schaut sich an, was es heißt, wenn das „Gütesiegel“ der familienfreundlichengemeinde mit Leben erfüllt wird.

Von Wien aus eine halbe Stunde lang geht es mit dem Zug über Baden in die niederösterreichische 11.000-Einwohner-Gemeinde. Vorbei an den immer abstoßend wirkenden Industrieanlagen des Wiener Umlandes gelangt man rasch in eine lieblichere Gegend. Weinberge säumen den Weg. Vom Weinanbau selbst ist in Bad Vöslau nur mehr wenig zu sehen. Erster Eindruck am Bahnhof: Unzählige geparkte Autos. Eine der vielen Gemeinden im Wiener Umland, in denen das Wien-Pendeln zum Alltag vieler Menschen gehört. Dieser erste Eindruck lässt nicht erahnen, wie  groß das zivilgesellschaftliche Engagement ist, auf das man in dieser Gemeinde stößt. Die Gedanken an die aneinandergereihten Stahlkarossen verlieren sich aber gleich wieder. Ein herzliches Lächeln von Anita Tretthann, der Stadträtin für Soziales, sorgt dafür. Sie ist hauptverantwortlich dafür, dass das Audit familienfreundlichegemeinde in Bad Vöslau umgesetzt wird. Den Nachtdienst, der hinter ihr liegt, lässt sie sich kaum anmerken.  

Audit nach Arbeitsgruppen gegliedert

Mit dem Auto fahren wir vorbei an den ewig gleichen mehrstöckigen Wohnungsbauten zum Schloss, das heute als Rathaus dient. Dort wartet eine kleine Abordnung von Menschen, die von Seiten der Stadt in das Projekt involviert sind. Anita Tretthann hat sie alle zusammengetrommelt, damit sie erzählen, welche Rollen sie in dieser Initiative haben. Das Audit familienfreundlichegemeinde wurde hier so angegangen, dass die Projekte für die unterschiedlichen Lebensphasen von Beginn an in verschiedene Arbeitsgruppen aufgeteilt wurden. Kleinkinder und Kindergarten, Schüler und in Ausbildung stehende Jugendliche, Menschen in der nachelterlichen Phase, Senioren sowie die Gruppe „Lebensqualität für alle“ sind die Bereiche, um die sich die Menschen hier bemühen.

Bad Vöslau – nicht nur politisch eine Besonderheit

Im – in jeder Hinsicht – imposanten Rathaus empfängt uns Bürgermeister Christoph Prinz. Politisch ist in Bad Vöslau einiges anders. Hier hat keine der Großparteien, sondern die Bürgerliste Flammer das Sagen. Dass die Projektgruppen aber überparteilich besetzt sind, darauf legt der Ortschef großen Wert. Am großen Tisch im Bürgermeisterbüro sitzen Gemeinderätin Emma Kerper, Gemeinderätin Doris Sunk, deren Kinder die örtlichen Schulen besuchen, Stadträtin Renate Voigt und Werner Feltrini, die im Rahmen des Audit auch als Lesebuddy aktiv sind, der Bürgermeister, Gemeinderat Robert Sunk, Projektleiterin Anita Tretthann, und die ehemalige Gemeinderätin Bettina Gschaider mit ihrem jüngsten Spross, der erst wenige Monate alt ist.

Christoph Prinz gibt zu, dass es in der Anfangsphase die „Frauenpower“ in Form von Tretthanns Vorgängerin Inge Kosa war, die ihn von der Sinnhaftigkeit des Projekts überzeugt hat. „Das Besondere an diesem Audit ist, dass die Gemeinden egal ob vom Gemeindebund oder dem Ministerium von Beginn an gut unterstützt werden. Sonst könnte man so einen langen Prozess auch nicht durchhalten.“

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©Gemeindebund

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©Gemeindebund
Bad Vöslau hat 2015 das Zertifikat Audit familienfreundlichegemeinde erhalten. Durch das Audit familienfreundlichegemeinde wurde in der Bücherei eine Leseecke geschaffen.

Hilfe von außen kann Prozesse erleichtern

Da in Bad Vöslau das gute Miteinander der unterschiedlichen Altersgruppen gepflegt wird, stand der Prozess unter dem Motto „Generationen mit Visionen“. Nach der Ist-Analyse, die zeigte, dass in der Stadt bereits viele Angebote vorhanden sind, die aber kaum jemandem in der Fülle zuvor bewusst waren, wurden durch eine Fragebogen- und Postkartenaktion die Wünsche der Bevölkerung gesammelt und in die Arbeitsgruppen getragen. Durch die Auswertung der Fragebögen stellte sich rasch heraus, dass das Essen im Kindergarten nicht dem Geschmack der Eltern und Kinder entspricht. „Manchmal ist es leichter, etwas zu verändern, wenn man sich Hilfe von außen holt. In diesem Fall war das eine Ernährungswissenschaftlerin, die gemeinsam mit dem örtlichen Gasthaus, das das Essen für die Kinder zubereitet, einen kindgerechten gesunden Speiseplan erarbeitete. Anschließend wurde dieser der Kindergartenleitung und den Eltern präsentiert. Als Verbindungsglied fungierte dabei immer die Auditgruppe“, schildert Prinz.

Erfolgsprojekt Kindersachenflohmarkt

Ein weiteres Erfolgsprojekt ist der Kindersachenflohmarkt. Bettina Gschaider, die das Projekt von Beginn an begleitet, weiß worauf es ankommt: „Wir haben mit sechs Tischen im Schlosspark angefangen und sind jetzt bei 50 Tischen. Die ursprüngliche Idee war, dass Kinder und Jugendliche ihre alten Spielsachen verkaufen und sich damit ihr Taschengeld aufbessern können. Wir merkten schon beim ersten Mal, dass die Idee gut ankommt. Ein richtiger Erfolg wurde es aber, als wir das Ganze mit einer Kaffeejause, die von den Senioren angeboten wurde, verbanden. Dabei kamen 600 Euro Reinerlös als Spende für unser Jugendzentrum zusammen. Um die Verlässlichkeit zu erhöhen, verlangen wir den Kindern und Jugendlichen zehn Euro als Standgebühr im Vorhinein und erstatten sie ihnen zurück, wenn sie tatsächlich kommen. Die zehn Euro zahlen nur die Erwachsenen, die etwas beim Flohmarkt verkaufen.“

Lesebuddies machen Bücher zum Erlebnis

Nachahmenswert sind auch die Lesebuddies. Zehn Personen, die sich ehrenamtlich bereit erklärt haben, für Kinder eine Lesepatenschaft zu übernehmen, besuchen diese meist einmal wöchentlich in den Kindergärten und Schulen, um vorzulesen oder mit ihnen gemeinsam zu lesen. Meist handelt es sich dabei um Kinder mit Lesedefiziten. Simon, 13 Jahre alt, aus der Sportmittelschule Bad Vöslau kam mit zwei Schulkollegen im vorigen Schuljahr in den Genuss der Lesepatin und ehemaligen Volksschuldirektorin Renate Voigt. „Durch die Lesebuddies habe ich lesen geübt, aber auch neue Wörter kennengelernt, die ich vorher noch nicht kannte§, erzählt Simon, der nun privat gerne Asterix-Comics oder Krimis liest.

Gemeinsam mit dem Stadtmuseum im ehemaligen Gemeindeamt des Ortsteils Gainfarn untergebracht, hat sich die Bücherei zu einem lebendigen Ort entwickelt. Regelmäßig besuchen die Kindergärten und Schulen die mit über 16.000 Büchern gut bestückte Bücherei, zusätzlich finden hier neben Lesungen auch das Ferienspiel, das Puppentheater oder die Weihnachtsvorlesungen, die Eltern am Vormittag des 24. Dezember entlasten, statt. „Die Veranstaltungen nehmen die Schwellenangst. Meist sieht man hier dann das eine oder andere Buch, was zum Wiederkommen anregt“, erzählt Heidi Höllerbauer, die gemeinsam mit der Leiterin der Bücherei Mag. Angelika Kafka, die zahlreichen Veranstaltungen abwickelt. Durch die rollbaren Regale ist es möglich, genügend Platz für bis zu 40 Personen zu schaffen. Das Lesekaffee, das im Rahmen des Audit entstanden ist, sowie das kostenlose WLAN laden außerdem dazu ein, hier ganze Nachmittage in Büchern oder E-Books zu schmökern. In Zukunft wollen sie auch die in Bad Vöslau untergebrachten Flüchtlinge noch stärker in die Bücherei locken, denn gerade lesen hilft, die Sprache schneller zu lernen.

Jugendinseln_Bad-Voeslau

©Gemeindebund

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Mit den Jugendinseln wurde für die Teenager eine Aufenthaltsmöglichkeit geschaffen. Selbst die Kleinsten fühlen sich in der Bücherei von Bad Vöslau wohl.

Auch Integration wird über Audit abgewickelt

Wie die Gemeinde aber die Integration löst, ist ein direkter Effekt aus den Erfahrungen, die man aus dem Audit gewonnen hat, erzählt Bürgermeister Christoph Prinz: „Wir haben derzeit rund 100 Flüchtlinge, davon 20 bis 25 unbegleitete Minderjährige. Da wir uns ein großartiges Bürgerengagement aufgebaut haben, können wir auch die Betreuung der Flüchtlinge mit 40 bis 60 Ehrenamtlichen durchführen. Dazu gehören nicht nur viermal die Woche stattfindende Deutschkurse für Asylwerber, sondern auch zum Beispiel, dass die Kinder von einigen unserer Ehrenamtlichen mit den unbegleiteten Minderjährigen in unseren Jugendtreff gehen. Nur so kann die Integration funktionieren.“

Aus der langjährigen Erfahrung mit Zugewanderten – Bad Vöslau ist die einzige Gemeinde in Niederösterreich, in der es eine Moschee gibt – ist der Austausch mit anderen Kulturen eine Selbstverständlichkeit geworden. Aus diesem Austausch sind  beispielsweise das im Zuge des Audit umgesetzte Buchprojekt „So viele Sprachen spricht Bad Vöslau“ oder auch „Grenzenlos Kochen“, ein gemeinsames Kochen der Lieblingsspeisen aus dem jeweiligen Heimatland, entstanden.

Ehrenamtliches Engagement dauerhaft nutzen

Die Liste der besonderen Projekte ließe sich hier fast endlos fortführen. Die Motivation ist über die vielen Jahre nicht verloren gegangen, im Gegenteil: Gerade sind die engagierten Bürger dabei, das Projekt „Gesunde Gemeinde“ anzugehen, und auch das Unicef-Zertifikat möchte man noch erreichen. „Das ehrenamtliche Engagement, das wir uns im Rahmen des Audit aufgebaut haben, ist vom Abarbeiten der Projekte zu einem Instrument geworden, das wir für viele andere Vorhaben auch einsetzen können“, so Tretthann.

Mit den Lesebuddies können Kinder ihre Lesedefizite nachholen. Zehn Ehrenamtliche übernehmen diese Funktion vom Kindergarten bis zur Neuen Mittelschule. ©Gemeindebund