Der Verfassungsgerichtshof hat die niederösterreichische Mindestsicherung mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Das System der Deckelung berücksichtige den konkreten Bedarf nicht. Die Aufhebung erfolgt ohne Reparaturfrist.
Der Verfassungsgerichtshof hat in der Märzsession 2018 weitere Klarstellungen zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung getroffen und die niederösterreichischen Einschränkungen als verfassungswidrig eingestuft. Wörtlich heißt es in der Entscheidung vom 7. März 2018: „Das mit § 11b NÖ MSG geschaffene System [Deckelung, Anm.] nimmt keine Durchschnittsbetrachtung vor, sondern verhindert die Berücksichtigung des konkreten Bedarfes von in Haushaltsgemeinschaft lebenden Personen. Dadurch verfehlt dieses System der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ab einer bestimmten Haushaltsgröße seinen eigentlichen Zweck, nämlich die Vermeidung und Bekämpfung von sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen.“
Mehr als 160 Anträge des Landes- verwaltungsgerichts NÖ
Die nö. Mindestsicherung (NÖ MSG) beschäftigte den VfGH auf Grund von mehr als 160 Anträgen des Landes- verwaltungsgerichts Niederösterreich. Dahinter stehen jeweils Beschwerden von Personen, die nach der seit 1. Jänner 2017 geltenden Rechtslage eine geringere Mindestsicherung zugestanden bekommen haben.
Zur Frage der Deckelung verweist der Gerichtshof auf seine bisherige Rechtsprechung: „Auch wenn die Lebenshaltungskosten pro Person bei zunehmender Größe der Haushaltsgemeinschaft abnehmen mögen, so ist doch immer noch je weitere Person ein Aufwand in einiger Höhe erforderlich.“ Es gebe also keinen sachlichen Grund, richtsatzmäßige Geldleistungen für eine Haushaltsgemeinschaft ab einer bestimmten Anzahl von Haushaltsangehörigen abrupt zu kürzen.
Der Gerichtshof sieht sich nicht veranlasst, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Das System der nö. Mindestsicherung stellt grundsätzlich auf den konkreten Bedarf der betroffenen Personen ab. Die Deckelung hingegen begrenzt den Anspruch „in Abkehr“ von diesem System unabhängig von der Zahl der Personen mit einem fixen Betrag. Wörtlich heißt es in dem Erkenntnis: „Damit hat der niederösterreichische Gesetzgeber eine unsachliche Regelung geschaffen: Wenngleich 1.500 Euro für bestimmte Haushaltskonstellationen ausreichend sein können, verhindert das NÖ MSG eine einzelfallbezogene und damit sachliche Bedarfsprüfung.“
Auch Wartefrist betroffen
Neben der Deckelung betrafen die Anträge des Landesverwaltungsgerichts auch die Wartefrist (§ 11a NÖ MSG). Wer sich nicht mindestens fünf der vergangenen sechs Jahre in Österreich aufgehalten hat, kann unabhängig von der Staatsbürgerschaft statt der Mindestsicherung nur eine geringere Leistung gemäß den „Mindeststandards – Integration“ beziehen. Ausnahmen gelten für in Österreich geborene Kinder von voll Anspruchsberechtigten und für Personen, die Österreich für Ausbildungszwecke oder aus beruflichen Gründen verlassen haben.
Die niederösterreichische Landesregierung begründet die Wartefrist mit dem Erfordernis der Integration sowie der Setzung eines Anreizes zur Arbeitsaufnahme. Dem hält der VfGH entgegen, dass die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft eine vorhandene Integration bereits voraussetzt.
Stärkerer Arbeitsanreiz kein Grund
Die Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer kann auch nicht mit einem Anreiz zur Arbeitsaufnahme begründet werden: „Für den Verfassungsgerichtshof ist nicht erkennbar, weshalb österreichische Staatsbürger, die innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufhältig waren, einen stärkeren Arbeitsanreiz benötigten, zumal der bloße Aufenthalt im In- oder Ausland keinerlei Rückschluss auf die Arbeitswilligkeit der Person zulässt.“
Diese Regelung führt daher zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung österreichischer Staatsbürger untereinander je nach Aufenthaltsdauer in Österreich innerhalb der letzten sechs Jahre.
Asylberechtigte nicht mit Fremden gleichgestellt
Die Anknüpfung an die Aufenthaltsdauer in Österreich ist zudem im Hinblick auf Asylberechtigte (Personen, denen internationaler Schutz bereits zuerkannt wurde) unsachlich: Asylberechtigte mussten ihr Herkunftsland wegen „wohl begründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden“ verlassen und können aus denselben Gründen (derzeit) nicht dorthin zurückkehren. Asylberechtigte können daher im vorliegenden Zusammenhang nicht mit anderen Fremden (Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen), denen es frei steht, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren, gleichgestellt werden.
Die Aufhebung erfolgte ohne Reparaturfrist. Die aufgehobenen Bestimmungen sind nicht mehr anzuwenden.