18 Seiten Bildungsreform, die das österreichische Bildungssystem für die Zukunft rüsten sollen. Darin enthalten auch sehr viele Punkte, die die Gemeinden betreffen. Eine kritische Auseinanderandersetzung von Gemeindebund-Jurist Mag. Bernhard Haubenberger.
25.11.2015 – Das ist also die mit Spannung erwartete Bildungsreform. Mit den zahlreichen Überschriften, Fachausdrücken und Zielbestimmungen gleicht dieses Abschlussdokument, das unser Bildungssystem ins 21. Jahrhundert holen soll, zwar eher einem Anhang zum bestehenden Regierungsprogramm, aber die Formulierungen, die oft noch großen Interpretations- und Verhandlungsspielraum lassen, haben es aus kommunaler Sicht doch in sich. Eine erste grobe Durchsicht des Reformpapiers lässt erkennen: Bis auf jene Punkte, in denen es um politische Einflussnahmemöglichkeit geht, waren hier in erster Linie Theoretiker und Schreibtischbürokraten am Werk; jene „Experten“, die sich fernab vom eigentlichen Geschehen mit wissenschaftlichen Abhandlungen, Theorien und (internationalen) Studien befassen. Man bekommt den Eindruck: Nachdem der Gesundheitssektor bereits kaputtverwaltet ist und die Schulen kurz davor stehen, soll es nun den Kindergärten an den Kragen gehen.
Betroffene wurden nicht gefragt
Augenscheinlich ist, dass jene nicht zu Wort gekommen sind, die die Betroffenen der vorgeschlagenen Maßnahmen sind: Eltern, denen die Mündigkeit vollends abgesprochen wird, Lehrer und Pädagogen, die kostbare Zeit in der Klasse durch noch mehr Bürokratie verlieren, Schüler und Kinder, die von all den Maßnahmen nur kaum einen Nutzen ziehen und Gemeinden, die für die Bereitstellung der Schul- und Kindergarteninfrastruktur zuständig sind.
Ob es die Furcht oder andere Beweggründe waren, in keinem Punkt wird die – auch vor dem Hintergrund der anstehenden Pensionswelle im Lehrpersonal – mehrfach in der Vergangenheit aufgezeigte Notwendigkeit der Anpassung des Dienst- und Besoldungsrechtes angesprochen. Dringende Reformen etwa im Bereich der Personalbereitstellung im Freizeitteil ganztägiger Schulangebote finden gleich gar keine Erwähnung. Ebenso unausgesprochen bleiben die Fragen nach der Finanzier- und Umsetzbarkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen – denn Kostenneutralität oder gar Einsparungen darf man sich keinesfalls erwarten.
Ist es um die Kindergärten wirklich so schlecht bestellt?
Bei der Vielzahl an Maßnahmen, die im Bereich des Kindergartens vorgeschlagen werden, scheint es um die Kindergärten in Österreich sehr schlecht bestellt zu sein. Dass der Schein trügt, erkennt man vor allem daran, dass in der Vergangenheit immer wieder Forderungen mit Verweis auf internationale Empfehlungen erhoben werden, nicht aber dazugesagt wird, wo es in Österreich tatsächlich krankt. Anders als die Politiker sehen das die Eltern bei einer Ende 2014 unter 1.000 Eltern durchgeführten Befragung, deren Kinder gerade die Kinderbetreuungseinrichtungen/Schulen besuchen: Die Zufriedenheit mit der Betreuung für 2,5- bis Sechsjährige Kinder liegt bei 69 Prozent. Nur vier Prozent sind damit gar nicht zufrieden. (15% keine Angabe)
Bildungskompass für alle Kinder ab 3,5 Jahren
Nachdem es Eltern und Kinderärzte nicht besser wissen dürften, müssen Kinder zukünftig nicht nur Screenings ihres Sprach-, sondern auch ihres Entwicklungsstands über sich ergehen lassen. Kindergartenpädagogen werden angehalten, diese sogenannte Potenzialanalyse durchzuführen und für eine fortlaufende Dokumentation zu sorgen. Allein die Sprachstandfeststellungen verursachen bereits einen beträchtlichen bürokratischen Aufwand und werden von vielen Pädagogen als Schikane und Dokumentation für die Schublade gesehen. Dabei sollte man doch denken, dass Pädagogen für die Kinder und nicht dafür da sein sollten, Arbeitsunterlagen und Zahlenwerke für Wissenschaft und Statistik zu liefern. Sinnvoller als eine Parallelwelt neben dem Mutter-Kind-Pass zu konstruieren, erschiene es außerdem, letzteren aufzuwerten und Eltern, allenfalls auch Kinderärzte „in die Pflicht“ zu nehmen.
Zweites verpflichtendes Kindergartenjahr
Da man Wien-Probleme gerne bundesweit löst, fixiert man ohne Einbindung der Gemeinden ein zweites verpflichtendes und demgemäß auch kostenloses Kindergartenjahr. Ganz gleich, ob es sich um eine Gedächtnislücke handelt oder nicht: Erst Mitte Oktober wurde im Nationalrat und Ende Oktober im Bundesrat die Art. 15a B-VG Vereinbarung beschlossen, in der lediglich verpflichtende Elterngespräche mit Empfehlungen für einen Kindergartenbesuch im vorletzten Kindergartenjahr vereinbart wurden. Hinzuweisen ist auch darauf, dass die Betreuungsquote der Vierjährigen österreichweit bereits über 95 Prozent liegt, in Vorarlberg bei 99,8 Prozent, im Burgenland gar bei 99,7 Prozent, ausschließlich in Wien, Kärnten und der Steiermark liegt die Betreuungsquote deutlich darunter. In absoluten Zahlen handelt es sich in erster Linie um ein Wien-Problem.
Bemerkenswert ist die Opt-Out-Möglichkeit nach dreimonatigem Pflichtkindergartenbesuch. Da dem Anschein nach das Sprach- und Entwicklungsscreening mit 3,5 Jahren nicht aussagekräftig genug erscheint, zwingt man Eltern und Kinder drei Monate lang zu einem Besuch, von dem sie sich je nach Erreichen von wissenschaftlich ausgearbeiteten Indikatoren wieder abmelden können. Es ist davon auszugehen, dass all jene Eltern, deren Kinder diese Indikatoren erreichen, für den weiteren Besuch des Kindergartens zahlen werden müssen (der Besuch ist ja in diesem Fall nicht Pflicht), hingegen jene, bei deren Kindern ein Entwicklungsdefizit diagnostiziert wurde, infolge der damit ausgelösten Pflicht keinen Kindergartenbeitrag leisten müssen. Kinder mit ausgewiesenem Förderbedarf sollen durchgehend beobachtet und zielgenau gefördert werden.
Derzeit zahlt der Bund den Ländern/Gemeinden aufgrund des Wegfalls der Elternbeiträge für Fünfjährige (letztes Kindergartenjahr) jährlich 70 Mio. Euro. Wo die Mittel für das vorletzte Kindergartenjahr in jenen Bundesländern, in denen es noch keinen kostenlosen Besuch für Vierjährige gibt, aufgebracht werden sollen, lässt sich freilich nicht ausmachen. Gleiches gilt für die Herkunft jener Mittel, die für den Bürokratiewahnsinn und für das zusätzlich erforderliche Personal notwendig sind.
Bundesweit einheitlicher Qualitätsrahmen
Da Versuche, bundesweit einheitliche Qualitätsstandards in allen Kindergärten festzulegen, bereits mehrfach und aus gutem Grund gescheitert sind, erstaunt die Beharrlichkeit. Bereits vor fünf Jahren gab es einen ersten Anstoß zu einer Vereinheitlichung der Qualitätskriterien. Zahlreiche „Experten“ – freilich nur mit dem Blick für das Ganze und nicht für das einzelne Individuum – arbeiteten damals Mindeststandards aus, die gar nicht so minder waren. Teilweise gingen die vorgeschlagenen Maßnahmen weit über die höchsten bestehenden Standards in den Bundesländern.
Schlussendlich sollten es Qualitätsstandards höchster Güte werden, die zwar in der Theorie gut gemeint, aber in der Praxis kaum umsetzbar und schon gar nicht finanzierbar waren. So sollte beispielsweise die jedem Kind zur Verfügung stehende Quadratmeteranzahl stufenweise erhöht werden, sodass ab 2015 jedem Kind eine bespielbare Fläche von 2,5 m², ab 2017 eine Fläche von 3 m² und ab 2020 eine Fläche von 4 m² zur Verfügung steht. Weder wurde in der betreffenden Unterlage die derzeitige Situation abgebildet, Mängel am bestehenden System aufgezeigt, noch angeführt, wie dieser Stufenplan in der Praxis (und nicht nur in der Theorie) umgesetzt werden soll. So gesehen ist es nur schwer vorstellbar, dass die „Zentrale in Wien“ besser Bescheid weiß, was etwa in einem Bergdorf notwendig und vor allem sinnvoll ist. Dass es bundesweit und auch regional unterschiedliche Anforderungen und Erfordernisse gibt, muss in diesem Zusammenhang nicht sonderlich betont werden.
Bürokratie par excellence
Bildungskompass, Sprachstandfeststellung, Entwicklungsscreening, Potentialanalyse, Dokumentation. So sieht der Kindergarten von morgen aus. War der Kindergarten bislang weitgehend von unnötiger Bürokratie gefeit, so mutiert er zunehmend zu einem Verwaltungsapparat, in dem nicht mehr das Kind im Mittelpunkt steht, sondern Kennzahlen, die allenfalls darüber Auskunft geben, wo wir uns im internationalen Ranking befinden – vergleichbar etwa mit der Entwicklung im Schulwesen. Aus dem Subjekt Kind wird ein Objekt für Wissenschaft und Forschung.
Denn sie wissen nicht was sie tun
Begründend für den Bürokratiewahn wird ausgeführt, dass dadurch eine individuelle, bedarfsorientierte und maßgeschneiderte Betreuung jedes einzelnen Individuums ermöglicht wird. Zusätzliches Supportpersonal soll den Pädagogen zur Hand gehen. Wer das alles bezahlen soll, bleibt freilich ein Geheimnis. Völlig verkannt wird, dass sich derzeit zahlreiche Maßnahmen in Umsetzung befinden. So werden bis 2018 Mittel im Ausmaß von 90 Mio. Euro alleine in die sprachliche Frühförderung investiert. Bis 2017 werden 305 Mio. Euro für den Ausbau des institutionellen Kinderbetreuungsangebots sowie für Qualitätsverbesserungen bereitgestellt – ko-finanziert durch die Länder beträgt die Summe rund Euro 440 Mio. Zudem sind Mittel, die aus der Vereinbarung über einen Gratiskindergarten nicht ausgeschöpft werden, für Maßnahmen zur Qualitätssicherung einzusetzen (Reduzierung der Gruppengröße, Verbesserung des Betreuungsschlüssels).
Bürokratiewelle auch für Schulen
Viel „pädagogischer Freiraum“ als Teil der Stärkung der Schulautonomie, wie es in den Maßnahmenvorschlägen heißt, wird dem Lehrpersonal und den Schulleitern zukünftig nicht bleiben. Begriffe wie standortspezifische Entwicklungspläne, Förderpläne, Zielvereinbarungsgespräche, standortspezifischer Qualitätsbericht, mehrjähriges Schulkonzept, Selbstevaluation und Peer-Evaluation, Definition von Indikatoren zwecks Evaluierung der Zielerreichung, zentrale Leistungsmessungen usw. eröffnen zwar Betätigungsfelder für die neue Schulaufsicht, lassen sonst aber nichts Gutes erahnen.
Verwaltungseinheit NEU?
Worum es sich bei der neuen Verwaltungseinheit konkret handelt, ist dem Reformpapier zwar nicht eindeutig zu entnehmen. Es scheint aber so sein, dass all jene Schulstandorte, die weniger als 200 Schüler umfassen, mit anderen Standorten zu einer Verwaltungseinheit namens Schulcluster zusammengelegt werden sollen. Betroffen von diesen Zusammenlegungen wäre eine Unzahl an Volks- und Hauptschulen. Zukünftig sollen nur noch Schulen mit mehr als 200 Schülern eine eigene Leitung haben, alle anderen unterstehen dann der Leitung des jeweiligen Clusters. Als Trostpflaster erhalten Verwaltungseinheiten, die bestimmte Größenkriterien erreichen, neben dem Direktor und einem Stellvertreter auch ein mittleres Management. Wie sich diese sogenannten Schul- oder Bildungscluster mit den bestehenden Schulsprengeln vereinbaren lassen, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, wer für die Kosten des zusätzlichen Administrativpersonals aufkommen soll.
Finanzielle Autonomie – nur auf den ersten Blick positiv
Dem eigenständigen Schulstandort oder dem neuen Schulcluster soll eine direkte Verfügbarkeit über bestimmte finanzielle Ressourcen eingeräumt werden (Sachaufwand, Schulbuch, Ausstattung). Was auf den ersten Blick erfreulich klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als mögliches (Druck-) Mittel zum Zweck der Einsparung oder gleich Schließung des Schulstandortes. Da künftig der Bund regelmäßig standortbezogen Erhebungen auch über den Ressourceneinsatz anhand von Indikatoren (etwa Schülerzahl) durchführt, wird eine – so gesehen bereits offensichtlich überflüssige – Analyse sehr rasch feststellen, dass die Pro-Kopf-Kosten kleinerer Schulstandorte höher sind.
Dass eine Drittmittelaufbringung im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten gestattet ist, bedarf zwar eigentlich in dem Reformpapier keiner Klarstellung. In diesem Zusammenhang ist aber darauf hinzuweisen, dass das Bildungsministerium im Juni dieses Jahres mittels Erlass jegliche Werbung und Sponsoring in Schulen und bei Schulveranstaltungen zu unterbinden versucht hat. Damit wurde den Schulleitern, ja sogar dem Schulgemeinschaftsausschuss das Verantwortungsbewusstsein im sorgsamen Umgang mit Werbung und Sponsoring in Schulen abgesprochen. Gelebte Schulautonomie schaut anders aus.
Gemeinsame Schule der 6 bis 14-Jährigen
Zwar steht an anderer Stelle des Reformpapiers, dass die Anzahl der Schulversuche drastisch reduziert werden soll, mit der Einführung der Gesamtschule in homöopathischen Dosen startet man aber sogleich einen neuen Versuch. Gleiche Bildungschancen für alle, lautet das Motto. Was als Imageproblem der Hauptschule im städtischen Bereich begann, mündete zunächst in die bundesweite Überführung aller Hauptschulen in Neue Mittelschulen. Dem nicht genug soll es zukünftig nur mehr eine Schule für alle ohne Differenzierung und Zugangsbarrieren geben. Damit alle Menschen gleich sind, müssen sie erst gleich werden. Statt institutioneller Differenzierung soll es nunmehr eine innerschulische Differenzierung und Individualisierung geben.
Bildungsinnovation
Bis 2020 soll eine flächendeckende Verfügbarkeit von ultraschnellem Breitbandinternet an allen Schulstandorten angestrebt werden. Damit deckt sich der Zeitpunkt der Umsetzung mit jenem der Breitbandstrategie 2020 des BMVIT. Vieles wird davon abhängen, inwieweit der Breitbandausbau auch unter Berücksichtigung der Breitbandmilliarde vonstattengeht. Bislang sind zahlreiche Projekte vor allem im ländlichen Raum zum Breitbandausbau an Stolperfallen in den Förderrichtlinien und der Förderabwicklung gescheitert. Wer die Kosten für die schulinterne Ausstattung trägt, wird ebenso noch zu diskutieren sein.
(Autor: Mag. Bernhard Haubenberger)