27.7.2017 – Seit zehn Jahren fordert der Gemeindebund einen Masterplan, um der zunehmenden Schieflage zwischen urbanen und ländlichen Gebieten Einhalt zu gebieten. In einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung liegt nun ein über 100-seitiger Masterplan für den ländlichen Raum vor.
„Ländliche Regionen sind keine defizitären Gebiete, sondern echte Zukunftsschätze für Österreich, deren Potenziale wir mit diesem Masterplan heben wollen“, betonte Lebensminister Andrä Rupprechter bei der Präsentation des über 100 Seiten starken Werks. Dieser Masterplan ist das Ergebnis eines einjährigen Prozesses, der Beteiligung von 3.000 Bürger/innen sowie 250 Expert/innen, mehreren Diskussionsveranstaltungen in allen Bundesländern. Er wurde am 25. Juli 2017 in Korneuburg 1.200 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Stakeholdern und Unterstützern gemeinsam mit Rupprechter, NÖ Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und Gemeindebund-Präsident Alfred Riedl präsentiert.
Rupprechter kommt mit diesem Plan auch einer langjährigen Forderung des Österreichischen Gemeindebundes nach, der immer für die Gleichwertigkeit von Stadt und Land eingetreten ist. Mit den 20 erarbeiteten Punkten sollen die Stärken und Leistungen des ländlichen Raums sichtbar gemacht werden. Für Gemeindebund-Präsident Riedl stellt dieser Masterplan aber nur den Beginn dar: „Die Zeit zum Handeln drängt: Der ländliche Raum verliert jährlich mehr als 5.000 gut ausgebildete Personen allein an den Großraum Wien. Daher ist es einerseits sehr erfreulich, dass sich die Bundesregierung dieses wichtigen, umfassenden Themas endlich angenommen hat, gleichzeitig muss die rasche Umsetzung der darin erarbeiteten Maßnahmen Bestandteil jedes künftigen Regierungsprogramms sein.“
20 Punkte – zahlreiche Handlungsfelder
Die prominenteste Forderung bildet gleich die erste Maßnahme: Bundesdienststellen in die Bundesländer zu verfrachten. Damit würden einerseits mehr Arbeitsplätze für qualifiziertes Personal geschaffen, andererseits auch die wirtschaftliche Entwicklung in den ländlichen Regionen gestärkt. Durch die elektronischen Möglichkeiten sollen die Mehrkosten durch die räumliche Ferne in Grenzen gehalten werden. Das Ziel ist, zehn Prozent der Bundesbehörden aufs Land zu verlegen. Dies entspricht ungefähr 3.500 Dienstposten. Welche das konkret sein sollen, wird im Masterplan aber noch nicht näher definiert. Vom Ausbau des E-Governments sollen auch die Gemeindeverwaltungen erfasst werden. Als Beispiel wird der Zugang zum elektronischen Rechtsverkehr für Gemeindebehörden genannt.
An zweiter Stelle folgen die gemeindeübergreifenden Kooperationen. Dass es dafür keine Komplettlösungen gibt, die für alle Gemeinden passen, wird vorweggenommen. Die Umsetzung dieses Ziels beinhaltet jedoch mehrere sehr wünschenswerte Ziele, deren Verwirklichung der nächsten Regierung sicher ans Herz gelegt werden sollten: die klare Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, eine kompetenzorientierte Bündelung der Verwaltung durch regionale Kompetenzzentren sowie den Abbau von Mehrfachzuständigkeiten und Parallelstrukturen, Anreizsysteme für die Zusammenarbeit von Gemeinden und Regionen, sowie einfache Systeme der vertikalen Aufgabenwahrnehmung zwischen den Gebietskörperschaften. Um Kooperationen zu forcieren sollen praktikable Modelle entwickelt werden, sofern es sie als Best-Practice-Beispiele nicht schon gibt. Zur weiteren Inspiration sollen die Best-Practice-Beispiele auch in einem Katalog gesammelt werden. Zuletzt soll auch eine gezielte Anschubförderung für Gemeindekooperationen geschaffen werden.
Hehre Ziele steckt man sich auch beim Punkt „Digitalisierung„: Österreich soll Vorreiter bei der 5G-Versorgung werden. Die Gemeinden betrifft das Ziel, in allen öffentlichen Einrichtungen kostenloses WLAN zu ermöglichen. Die digitalen Hotspots in den Gemeinden werden nicht zuletzt dank der europäischen Initiative bereits zahlreich umgesetzt. Für Gemeinden, die diesbezüglich eine Top-Infrastruktur bieten, wird das Siegel „Digitale Gemeinde“ eingeführt.
Schwerpunkt vier widmet sich den Ressourcen des ländlichen Raums. Durch die schrittweise Transformation in Richtung einer nachhaltigen Bioökonomie und wissensbasierten Kreislaufwirtschaft und zahlreicher weiterer nachhaltiger Maßnahmen soll mehr aus den Schätzen des Landes gemacht werden.
Punkt fünf betrifft die Gemeinden in ihren ureigensten Kompetenzen: Der Raumordnung. Was auch in einigen Bundesländern schon angestoßen wurde, ist, dass der Flächenverbrauch eingedämmt und Wohnraum für die Bevölkerung geschützt wird. Ziel ist, die Raumordnung zu reformieren, zu harmonisieren und zu vereinfachen. Zusätzlich soll die österreichweite Ausrollung der bereits in Niederösterreich eingesetzten Flächenmanagement-Datenbank erstmals die Grundlagen für ein effektives Flächenmanagement ermöglichen.
Im Zusammenhang mit Raumordnung spielt immer auch die Mobilität eine große Rolle. Der öffentliche Verkehr soll gestärkt und der CO2-Ausstoß gleichzeitig gesenkt werden. Durch eine intelligente Verkehrspolitik soll am Ende eine höhere Standortqualität auch im ländlichen Raum möglich sein. Die vorgeschlagenen Maßnahmen wie E-Car-Ladeinfrastruktur in öffentlichen Einrichtungen, E-Carsharing usw. existieren zu einem großen Teil bereits schon und müssen nun in die Breite getragen werden.
Ein emotional diskutierter Punkt dieses Jahres ist auch die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Eine bereits beschlossene Maßnahme, die dem drohenden Ärztemangel entgegenwirken und gleichzeitig die Qualität steigern soll, sind die Primärversorgungseinheiten. Darüber hinaus soll das Kassenarztvertragssystem an die Frequenzsituation der Landpraxen sowie durch eine sprengelübergreifende Zusammenarbeit und Erreichbarkeit der Ärzte/innen die ärztliche Versorgung verbessern.
Die Versorgung älterer Menschen hat durch die Abschaffung des Pflegeregresses für die Gemeinden noch mehr Brisanz bekommen. Wie sich diese Maßnahme auf den Ausbau alternativer Versorgungskonzepte und von mobilen Diensten auswirkt, wird sich zeigen. Wie die Finanzierung sichergestellt werden soll, wird hier leider nicht angesprochen. Es wird lediglich von „rechtlichen und steuerlichen“ Vereinfachungen bei gemeindeübergreifender Zusammenarbeit“ gesprochen.
Ein wichtiges Zukunftsthema wird in Punkt neun angesprochen: die Energie. Österreich soll zum Land der Energiewende werden. Regionale Energiekonzepte sollen Potenziale klar machen, alternative Methoden zur Energiegewinnung gefördert, rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit mehrere Haushalte Energie produzieren und auch weitergeben können, Synergien durch einen koordinierten Leitungsbau gehoben und ressourcenschonende Bioökonomie-Modelle unterstützt werden. Konkret wird es beim Thema Ölheizungen: Diese sollen in Neubauten verboten werden.
Ohne eine lebendige Wirtschaft helfen viele der vorhin genannten Maßnahmen nichts. Daher umfasst Punkt zehn eine Vielzahl an Maßnahmen, um vor allem die Klein- und mittleren Unternehmen zu stärken. Einem Schulterschluss zwischen Landwirtschaft und gewerblicher Wirtschaft wird hier viel Potenzial eingeräumt. Zudem soll die regionale Wertschöpfung verbessert, regionale Cluster, beispielsweise bei Energie und Holz, etabliert oder die Direktvermarktung gestärkt werden. Um die Selbstständigkeit wieder attraktiv zu machen, sollen Vereinfachungen im Steuersystem und bei der Sozialversicherung helfen.
Fast die Hälfte der Österreicher ab 15 Jahren ist ehrenamtlich tätig. Haftungsfragen oder die berühmte Registrierkassa sorgten aber in den letzten Jahren dafür, dass das Vereinsleben zunehmend in Bedrängnis geriet. Um weiterhin Freiwillige zu finden, soll beispielsweise die Zusammenarbeit der Vereine mit Schulen und Kindergärten verstärkt werden, aber auch gemeindeeigene Anlagen für Vereine kostenlos bereit gestellt werden. Aber auch auf Seiten des Bundes wird Handlungspotenzial gesehen: So soll Vereinsarbeit entbürokratisiert, Verbesserungen in der Haftungsfrage beschlossen und ehrenamtliches Engagement ausgezeichnet werden.
Punkt zwölf beschäftigt sich mit einem bisher unbekannteren Thema: Green Care. Mit entsprechender Ausbildung können Land- und forstwirtschaftliche Betriebe als Ergänzung bestehender sozialer Dienstleistungsformen beispielsweise Kindern und Jugendlichen in problematischen Lebenslagen auch unter Einsatz der vorhandenen Ressourcen (Tiere, Gärten, Wald) helfen.
Frauen haben im Masterplan einen eigenen Punkt, weil aus dem ländlichen Raum mehr Frauen als Männer abwandern und vor allem junge Frauen sich entscheiden, ihren Lebensraum zu wechseln. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist hier der Möglichkeiten für eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf, aber eben auch die Schaffung von qualifizierten Arbeitsplätzen. Die Förderung von weiblichen Gründungen und Betriebsnachfolgen in der Landwirtschaft sollen ebenso dazu führen, dass Frauen wieder lieber am Land leben.
Bildung, die im Punkt 14 erfasst wird, beinhaltet mehr als nur die schulische Bildung. Ziel ist es, die Weiterbildung auch am Land attraktiv und leicht zugänglich zu machen, die duale Bildung im tertiären Bereich auszubauen, Plattformen für Bildungsanbieter zu schaffen und das Online-Angebot zu verbessern.
Durch eine zielgerichtete Standortpolitik soll Knowhow in die Regionen zurückgeholt und Abwanderung von Betrieben gestoppt werden. Dazu sollen auch innovative Maßnahmen wie die Errichtung von Gründungszentren und Coworking Spaces beitragen.
Wie der Tourismus für die Zukunft gerüstet werden kann, beinhaltet Punkt 16. Dabei setzt man im Lebensministerium vor allem auf Entbürokratisierung, Integration landwirtschaftlicher Produkte in die Menü-/Produktgestaltung, eine strategische Partnerschaft mit der Landwirtschaft und Vereinen und die Entwicklung innovativer, differenzierter Angebote für den Ganzjahrestourismus.
Kinderbetreuung ist nicht nur essentiell, um Frauen in der Region zu halten, sondern generell um Jungfamilien einen geeigneten Lebensraum zu bieten. Daher sind die Ziele, flächendeckend flexible und zeitlich abgestimmte Kleinkindbetreuung vor Ort anzubieten, eine ganzjährige Betreuung von Kindern unterschiedlicher Altersklassen zu garantieren, längere Öffnungszeiten in den Kindergärten zu ermöglichen und die Nachmittagsbetreuung an den Schulen weiter auszubauen.
Der drittletzte Punkt wird der Vernetzung gewidmet. Regionale Strategien sollen helfen, damit sich gleich mehrere Regionen als Standort etablieren und entwickeln können. Themen für eine Strategie wären zum Beispiel: Katastrophenprävention, Naturgefahren, nachhaltige Energieproduktion, smarte Gemeinden, klimafreundliche Mobilität, regionale Kreislaufwirtschaft. Dazu sollten idealerweise auch LEADER-Programm und strategische Kooperationen von Kleinregionen und Regionen genutzt werden.
Den vorletzten Punkt bildet die Kulinarik. Dabei ist vor allem eine bessere Vermarktung der heimischen Produkte und die Schaffung einer neuen Wertschöpfung vorgesehen.
Den letzten Punkt bildet die österreichische Kultur. Maßnahmen sind hier: kulturelle Chancengleichheit für den ländlichen Raum zu schaffen, Kreativität und Kultur am Land strukturell zu stärken, Plattformen für regionales Kulturschaffen zu etablieren, regionale Kulturstrategien zu entwickeln und umzusetzen, sowie die Kreativität von Kindern zu fördern.
Obwohl sehr viele ungemein wichtige Punkte für die Entwicklung des ländlichen Raums aufgegriffen und einige Lösungsvorschläge gemacht werden, kratzt der Masterplan in vielen Bereichen noch sehr an der Oberfläche. Das mag wohl daran liegen, dass die Umsetzung aufgrund der vorzeitigen Nationalratswahlen noch sehr ungewiss ist. Allerdings ist es auch ein wichtiges Statement für die Zukunft, dass eine Bundesregierung am Thema nicht vorbeikommen wird. Für die Umsetzung wird es aber einer großen gemeinsamen Anstrengung bedürfen.